Die längste Lücke der Welt
Brücke oder Lücke?
Seit Jahrhunderten streitet Italien über diese Frage
Science Notes, 3.09.2025
Eine meiner liebsten Erinnerungen führt über das Meer – die Fähre von Kalabrien nach Sizilien, nach fast 20 Stunden Autofahrt ab München. Wenn ich in den Sommerferien mit meinen Eltern in die Heimat meiner Familie fuhr, war das mein Highlight. Aus dem Auto aussteigen. Die Beine spüren. In einen Arancino beißen und dabei aufs Meer schauen. Hinter mir: das Festland. Vor mir: Sizilien.
Grundrauschen dieser Fahrten waren nicht nur die Wellen. Sondern auch die Diskussionen über den Bau einer Brücke über die Straße von Messina. Diese Brücke, der Ponte sullo Stretto, die das Festland mit Sizilien verbinden soll, wurde immer wieder als ein Projekt der Zukunft angekündigt. Verwirklicht wurde es nie. Mein Großvater erzählte schon davon: »Ja, ja, die Brücke. Seit Jahren reden sie darüber…«
Bereits die Römer strebten eine Verbindung zwischen Sizilien und dem Festland an. Der Konsul Lucius Caecilius Metellus plante um 250 v. Chr. eine schwimmende Brücke aus Flößen. Bourbonenköning Ferdinand II. ließ das Projekt um 1840 vermutlich aufgrund zu hoher Kosten fallen. Überlegungen zu einer Tunnelverbindung gab es um 1870, nach der Einigung Italiens. Mussolini kündigte 1942 an, die Insel an Italien anbinden zu wollen. Unter verschiedenen Regierungen kam das Thema immer wieder auf. Nach Berlusconis Rücktritt 2011 wurde das Projekt dann 2012 gestoppt. Bis es unter der Regierung von Giorgia Meloni wiederbelebt wurde. Noch im Sommer 2025 soll der Bau beginnen. Kosten des Projekts: rund 13 Milliarden Euro.
Blick von Messina auf die Straße von Messina: links das Festland Kalabriens, rechts das offene Meer.
Politiker:innen versprechen sich von der Brücke eine schnellere Anbindung und einen wirtschaftlichen Aufschwung für den teilweise noch immer rückständigen Süden Italiens. Doch die Brücke würde in seismologisch aktivem Gebiet gebaut, dort, wo die eurasische und afrikanische Platte aufeinandertreffen. Messina wurde 1908 durch ein schweres Beben mit einer Magnitude von 7,2 fast komplett zerstört. Mindestens 77.000 Menschen starben in Reggio Calabria und Messina.
Anwohner:innen in Kalabrien und Sizilien stehen der Brücke kritisch gegenüber. Vor ein paar Jahren schlossen sie sich zu einer Protestbewegung zusammen. »No al Ponte!« – »Nein zur Brücke!« steht auf ihren Bannern, regelmäßig gehen sie auf die Straße. Sie protestieren vor allem gegen die Enteignung von Grundstücks- und Hausbesitzer:innen, die mit dem Bau einhergehen würde.
Aurelio Angelini, Umweltsoziologe an der Universität Palermo, warnt vor Schäden an der einzigartigen Flora und Fauna der Meerenge. Er stellt auch den wirtschaftlichen Einfluss der Brücke in Frage: Sie biete keine Lösung für die Probleme der Region, wie Infrastrukturmängel, Arbeitslosigkeit und eine schlechte Gesundheitsversorgung. »Ohne weitere Investitionen in die lokalen Straßen- und Bahnnetze droht die Brücke zu einem isolierten Koloss zu werden«, sagt er.
Wie es weitergeht? Wer weiß. Bis dahin freue ich mich auf den nächsten Arancino – und auf die Frage meiner Verwandten, sobald ich ankomme. Eine kleine Liebeserklärung, die in ganz Italien gleich klingt: »Hai mangiato? Hast du schon etwas gegessen?«
Foto: Giuseppe Micciché, Zona Falcata, Messina, 2006. Aus der Serie No ponte, Edition Patrick Frey, 2023