Weniger Amore per favore

Auch in diesem Sommer pilgern wieder Millionen Deutsche nach Italien. Das Meer, die Zitronen, la dolce vita. Unsere Autorin kann das Geschwärme nicht mehr hören.

SZ Magazin, 14.07.2025

Der erste Deutsche mit Italien-Fetisch war vermutlich Goethe. Hätte er Instagram gehabt, hätte er im Minutentakt Storys von seiner italienischen Reise gepostet und diese Hashtags verwendet: #dolcevita, #zuvinosagichnieno, #italienischereise. Vielleicht wäre er auch jeden Tag live gegangen, um mit uns seine Eat, Pray, äh, Write, Love-Momente zu teilen. Er hatte es aus der Schaffenskrise geschafft, dank Italien. Finalmente!

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?«, schrieb er in seinem Mignon-Gedicht. Ja, ich kenne es, meine Familie kommt da her. Und wisst ihr was? Ich habe die Schnauze voll von dem verklärten Bild, das ihr von Italien habt. Und von Zitronen auch!

Vor mir hatte schonmal jemand anderes die Schnauze voll. In den Achtzigerjahren schrieb der italienische Dichter Gino Chiellino, der nach Deutschland migriert war, eine Parodie auf das bekannte Mignon-Gedicht aus Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe. Wären diese Zeilen der Text eines Rap-Songs, könnte Chiellinos Gedicht auch ein guter Diss-Track sein:

Weißt du von einem Land, wo
das Leben billig, sehr billig für dich ist
und Sonne dazu?

Siehst du das Land
durch das du mit dem Film im Kopf
die Kamera am Hals
von der Sonnenbrille abgeschirmt
läufst?

Frauen am Fluss
Männer auf der Piazza
Kinder, die im Dreck spielen
listige Gesichter auf leuchtenden Dias
stillen deine ästhetische
Sehnsucht nach Armut.

Nicht dies, nicht dies ist das Land, wo die Gastarbeiter blühen!

Der Titel des Gedichts ist »Listige Gesichter (für J.W.v.G. in voller Wut)« und erschien 1984 in Chiellinos Gedichtband »Mein fremder Alltag«.

Warum ich damit beginne? Weil das Gedicht damals schon etwas kritisiert hat, was mich heute noch regelmäßig nervt: den verklärten Blick der Deutschen auf Italien. Die Unterschiede zur heutigen Zeit sind klar: Italien gehört nicht mehr zu den allergünstigsten Urlaubsländern, man sieht sich heute Reels auf Instagram statt Dias an, und die sozialen Verhältnisse haben sich in Italien verändert. Auch Deutschland hat sich verändert: Die italienischen Gastarbeiter, die man früher noch als »Spaghettifresser« betitelte, sind heute sowas wie die Lieblingsmigranten der Deutschen geworden. »Ihr seid ja nicht so richtige Ausländer« – solche Sätze habe auch ich gesagt bekommen. Deutsche lieben Spaghettieis (das übrigens in Mannheim erfunden wurde), sie wissen, den Gastarbeitern sei Dank, was eine Zucchini ist, und sie haben viele amore-Tassen eines Berliner Labels im Schrank stehen.


Im vergangenen Jahr wählten rund sechs Millionen Deutsche Italien als Urlaubsziel. Die einen reisen Goethe und Bachmann hinterher. Die anderen der perfekten Carbonara. Jährlich pilgern Deutsche zum Gardasee oder brettern die autostrada del sole runter. Italien als Projektionsfläche für all das, was in Deutschland fehlt: schönes Wetter, das Meer und gutes Essen.

Italiensehnsucht ist ein Wort, das es so nur im Deutschen gibt. Es ist so deutsch, dass sogar Friedrich Merz davon spricht. Bei seinem Antrittsbesuch in Rom sagte er: »Das ist immer auch ein bisschen die deutsche DNA gewesen, Italien ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer ein bisschen das Sehnsuchtsland der Deutschen gewesen.« Historisch und politisch gesehen war diese Sehnsucht vielleicht nicht immer die wirklich beste Entscheidung, aber okay.

Menschen im Smalltalk auf ihre Herkunft anzusprechen, darauf hat man sich still geeinigt, ist ein Tabu. Macht man nicht. Die Gefahr, ins Fettnäpfchen zu treten, ist zu groß. Lerne ich auf Partys, Ausstellungen oder Geburtstagen Menschen kennen, läuft es anders. Sie hören meinen Namen, dann fragen sie, ob ich aus Italien komme. Ich antworte immer mit: »Meine Familie, ich bin in München aufgewachsen.« Ich habe keine Lust, meine Familiengeschichte vor Leuten auszubreiten, die ich erst seit Minuten kenne. Meine Sorgen sind aber unberechtigt. Es passiert etwas ganz anderes: Ornella, mein Name, triggert so sehr, dass sich meine Gesprächspartner gedanklich in ihr voriges Mal Urlaub in bella italia zoomen. Ihre Gesichter werden weich. Sie lächeln. Und dann kommt ein mindestens 45-minütiger Vortrag über den Italienurlaub: »Da sind wir mal weit runtergefahren. So ganz in den Süden, da ist es ja anders, die Leute, die Natur und alles. Toll. Aber der ganze Müll, schon schlimm.« Meistens erzählen sie noch von irgendeinem Gianni, der voll nett war, »obwohl er kein Englisch konnte«.

Ich nicke und lächle. An vielen der Orte, von denen mir erzählt wird, war ich selbst nie. Wieso glaubt eigentlich jeder, dass Italiener jedes Kaff in Italien kennen? Mein halbes Leben bin ich nur nach Sizilien gefahren, wo meine Familie herkommt. Und da gab es vor allem Verpflichtungen. Meine Sommerferien waren schon auch Ferien, aber halt mit Friedhofsbesuchen und Verwandten, die sich um irgendein Stück Land streiten. Ich kenne Italien, vor allem Süditalien, gut, bin oft dort, beschäftigte mich im Studium und auch beruflich mit dem Land. Dazu gehört aber auch, dass ich dieses Land in erster Linie nicht als Urlaubsland erlebe, sondern auch mit allen anderen Ecken und Kanten. Mit mehr Realität. Und weniger Zitronen.

Was man im Italienurlaub gerne mal verdrängt: Der Klimawandel wird dort jeden Sommer spürbarer, das Mittelmeer ist so warm wie nie zuvor. Die Hitze sorgt für Blackouts in den Städten. Neulich wurde bekannt, dass die ultrarechte Regierung unter Giorgia Meloni Journalisten mit Spyware überwacht hat. Im Juni forderten rechte Politiker die Bevölkerung dazu auf, beim Volksentscheid über schnellere Einbürgerung und stärkere Arbeitnehmerrechte nicht wählen zu gehen. Seit Kurzem ist in Italien außerdem ein umstrittenes Sicherheitsdekret Gesetz. Kritiker sehen darin einen Angriff auf demokratische Grundrechte. Und als wäre das noch nicht genug, schließt Meloni fragwürdige Deals mit Albanien, um Asylverfahren dort durchzuführen. Friedrich Merz gefällt das. Ich habe Bauchschmerzen.

Bevor es total ungemütlich wird, zurück zur Sehnsucht: Gebt es zu, als ihr die Autorenzeile gelesen habt und da Ornella stand, habt ihr an die Schauspielerin Ornella Muti gedacht. Habt ihr nicht? Dann seid ihr vermutlich zu jung. So ungefähr jede zweite Person reagiert, nachdem ich mich mit meinem Vornamen vorgestellt habe, so: »Ahhh Orrrrrnella (dabei rollen und betonen sie das R dann besonders), so ein schöner Name. Ornella Muti, kennen Sie, oder? Tolle Frau!« Manche fragen auch, ob ich nach Muti benannt wurde. Sie galt vielen damals als Sexsymbol, was die Situation für mich nicht gerade angenehmer macht, zumal ich zu jung bin, um die Muti-Ära aktiv miterlebt zu haben. Die banale Antwort: Nein, meine Eltern fanden den Namen einfach nur schön.

Die Entscheidung meiner Eltern für diesen Vornamen löste einen Familienstreit aus, weil sich meine Mutter und mein Vater gegen die vor allem in Süditalien verbreitete Tradition entschieden, mir den gleichen Vornamen zu geben, den meine Großmutter trägt. Meine Eltern hatten darauf keine Lust mehr. Das wurde als Affront angesehen. So viel zur happy italienischen Großfamilie.

Ich möchte gar nicht, dass man Italien jetzt weniger liebt. Ich liebe es ja auch sehr. Es schadet aber nicht, den Film im Kopf abzustellen und die Handykamera nicht auf jeden Rentner zu richten, dem man in Neapel begegnet. Den Pasta- und Dolce-Vita-Hype nähren nämlich auch Bilder. In der heutigen Zeit vor allem von Fotografen wie Sam Youkilis, der auf Instagram das vermeintliche Alltagsleben und das Licht im Süden einfängt. Auch ich sehe mir seine Bilder und Videos gern an. Vor allem im Winter. Auch ich bin auf der Suche nach dem Schönen, nach Wärme. Und davon, das stimmt, hat Italien viel zu bieten.

Derartige Bilder tragen aber dazu bei, dass sich stereotype Vorstellungen verbreiten. Folgt man dem Sam-Youkilis-Narrativ, sitzen Italiener in Neapel ständig auf Plastikstühlen am Meer, lassen Tomaten in der Sonne reifen, knutschen unverhältnismäßig oft rum oder hängen in einer Bar ab und trinken einen Espresso nach dem anderen. Ja, dieses Italien gibt es ein bisschen. In den Sommermonaten. Man könnte bei den Aufnahmen aber meinen, Italien bestünde das ganze Jahr über nur aus den Monaten Juli und August und eben aus Dolce Vita, dem süßen Leben.

Was ist das eigentlich, Dolce Vita? Das, was uns die Fotos und Videos von Sam Youkilis auf Instagram zeigen? Unsere eigenen Fotos vom Urlaub in Italien, die sich alle irgendwie gleichen? Dolce Vita ist der Name des Films von Federico Fellini aus dem Jahr 1960. In den Hauptrollen: Anita Ekberg und Marcello Mastroianni. In Fellinis Film geht es um das ausschweifende Leben der High Society in Rom in den Fünfzigerjahren. Über der Leichtigkeit schwebt im Film die ganze Zeit die Schwere der existenziellen Fragen des Lebens, der Realität. Die verkauft sich aber schwer. Man will ja Italo-Leichtigkeit.

So passt es auch, dass der Dolce-Vita-Mythos zu einem Marketing-Tool mutiert ist, um Restaurants, Autos, Kleidung, Essen und Getränke zu vermarkten. Auch in Italien nutzt man das, nicht gerade sparsam. Überall wird mir Dolce Vita in Form von Zitronen aufgetischt. Ich sehe Italien vor lauter Zitronen gar nicht mehr. Auf jedem italienischen Markt: Tischdecken mit Zitronen, Zitronen-Kühlschrankmagneten, Strandtaschen mit Zitronen. Wo ein Angebot ist, muss es wohl auch eine Nachfrage geben. Sowas wollt ihr?

Das süß-zitronige Leben führen dabei meistens die Urlauber während der zwei Wochen im Jahr, die sie in Italien verbringen. Das süße Leben führen vielleicht auch die Deutschen (heißt es dann deutsche Vita?), die Amerikaner, die Engländer, die in Italien Häuser kaufen und dort ihren Dolce-Vita-Zweitwohnsitz einrichten. Dolce Vita im italienischen Alltag sieht allerdings so aus: Glücklich ist, wer einen Arbeitsplatz hat. Das Netto-Erwerbseinkommen in Italien lag 2023 im Mittel bei rund 24.207 Euro, womit Italien unter dem europäischen Durchschnitt von 28.217 Euro liegt. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 38.000 Euro. Platz eins belegt die Schweiz mit rund 85.000 Euro. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Italien hoch. Die Zahl der jungen Menschen, meistens gut ausgebildet und mit Studium, die das Land heute verlassen, bewegt sich jährlich zwischen 70.000 und 100.000. Sie fehlen ihren Familien. Das junge Italien, wie ihr es im Sommer erlebt, gibt es nicht das ganze Jahr. Die jungen Menschen kehren nur während der Sommermonate zurück, um ihre Familien zu besuchen.

Nochmal zurück zum Urlaub: Die italienische Tageszeitung »La Repubblica« schrieb neulich, dass sich etwa acht Millionen Italiener in diesem Jahr aus finanziellen Gründen keinen Sommerurlaub leisten können. Schauen wir also mit rosaroter Brille auf die Menschen aus Neapel, die uns die bekannten Instagram-Fotografen zeigen, sollten wir auch das im Hinterkopf behalten: Viele von ihnen können selten woanders als zuhause Ferien machen.

Die romantisierende Italiensehnsucht begegnet mir nicht nur auf Social Media oder in Gesprächen. Ich lebe in München. Und die Münchner betiteln ihre Heimat leidenschaftlich gern als die nördlichste Stadt Italiens. Blöderweise wurde München vor Kurzem zur unfreundlichsten Stadt der Welt gekürt. Ausgerechnet von Expats, also von Menschen aus dem Ausland, die aus beruflichen Gründen in München leben. Fremd- und Selbstwahrnehmung könnten kaum weiter voneinander entfernt liegen.

Genug gemeckert – ihr sollt Italien trotzdem genießen. Mit amore, aber auch mit einem kleinen Reality-Check im Hinterkopf. Und dass eine leidenschaftliche Italienerin euch einmal den Kopf geradegerückt hat, kann euch doch nur gefallen!

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"Un viaggio sull'Autostrada del sole", Domani (italienische Tageszeitung)