„Die Frauen sind das Gedächtnis der Mafia-Familien“

Treue, Liebe, Begehren und Verrat: In seinem jüngsten Werk beschäftigt sich Roberto Saviano mit den Frauen in der Mafia. Im Münchner Literaturhaus erläutert er die Hintergründe.

Süddeutsche Zeitung, 19.03.25

Personenschützer sitzen selten im Münchner Literaturhaus. An diesem Dienstagabend ist noch etwas ungewöhnlich: Das Publikum muss Jacken und Mäntel an der Garderobe abgeben. Vor dem Einlass in den Lesungssaal kontrolliert ein Mitarbeiter die Taschen der Gäste. Die Sicherheitsvorkehrungen sind strenger als sonst. Heute liest der italienische Reporter und Autor Roberto Saviano. Nachdem 2006 sein erstes Buch Gomorrha über die Machenschaften der neapolitanischen Mafia, der Camorra, erschien, bekam er Morddrohungen und steht unter Polizeischutz.

Was er seitdem nicht mehr kann: sich frei bewegen und in den Straßen recherchieren. Was er weiterhin tut: gegen die Mafia kämpfen und Bücher schreiben.

Spricht man über die Mafia, geht es meist um Männer. An diesem Abend aber stehen die Frauen der Mafia im Mittelpunkt. Um sie geht es in Savianos neuem Buch. In Treue. Liebe, Begehren und Verrat – Die Frauen in der Mafia beschreibt er anhand wahrer Geschichten, die Rolle von Frauen und Mädchen in Mafia-Familien.

Innerhalb dieser haben sie vorwiegend eine Aufgabe: die Nachkommenschaft sichern. Geheiratet wird nicht aus Liebe, sondern, wie früher bei den Aristokraten, aus wirtschaftlichem Interesse. Das kleine Einmaleins der Mafia-Logik erklärt Saviano zum Einstieg so: „Pasquale Condello, ein Boss der kalabrischen ’Ndrangheta, sagte einmal zu seiner Tochter, dass es Quatsch sei, jemanden aus Liebe zu heiraten. Liebe kann enden, aber eine Ehe darf nicht enden. Die Ehe mit deiner Mutter dauert an, weil ich sie nicht liebe.“

Im großen Saal des Literaturhauses sitzen rund 280 Menschen. Die Lesung ist ausverkauft, per Stream hören gerade noch mehr Menschen Roberto Saviano zu. Im Literaturhaus ist das Publikum bilingual, Deutsch und Italienisch vermischten sich vor Beginn der Lesung im Raum.

„Sono una grande fan di Saviano, lo stimo molto“, sagt eine Frau auf Italienisch zu ihrer Sitznachbarin. Sie sei ein Fan von Saviano und schätze ihn sehr. Sein Buch hat sie in der italienischen Originalversion mitgebracht. Später wird die Frau lange anstehen, um es sich von ihm signieren zu lassen.

Durch den Abend führt Maike Albath, Journalistin, Autorin und Expertin für italienische Literatur und Kultur. Die Fragen an Saviano stellt sie auf Italienisch, seine Antworten übersetzt sie ins Deutsche. Während der Schauspieler Shenja Lacher die deutschen Passagen aus dem Buch liest, zückt Saviano sein Handy und filmt die Szene. Nach der Lesung postet er das Video in seiner Story auf Instagram. Anspannung? Aufregung? Im Gegenteil. Saviano wirkt gelassen, genießt den Moment, will ihn festhalten.

Ob die Frauen der Mafia nicht nur den Männern unterstellt seien, sondern selbst auch Macht hätten, will Albath wissen. „Sobald sie mit den Behörden kooperieren, können sie alles auseinandernehmen. Die Frauen sind das Gedächtnis der Mafia-Familien“, sagt Saviano.

Manchmal wird ihnen das allerdings zum Verhängnis. Das zeigt die Geschichte von Maria Cacciola, die vorgelesen wird. Sie möchte ein freies Leben und vertraut sich der Polizei an, wird in ein Schutzprogramm aufgenommen. Dafür muss sie ihre Kinder zurücklassen. Sie vermisst sie aber so sehr, dass sie sich überreden lässt, zurückzukommen. Das dürfe sie nur, wenn sie ihre Aussagen zurücknimmt, sagt ihr die Familie. Maria willigt ein. Bezahlen wird sie mit dem Tod. In der unerbittlichen Denkweise der Mafia hat sie nämlich ihre Familie verraten. Wenige Tage nach der Rückkehr wird die Frau tot aufgefunden. Sie trank eine Flasche Salzsäure.

Nach zwei Stunden geht der Abend mit Roberto Saviano, dem 2009 der Geschwister-Scholl-Preis für sein Werk verliehen wurde, zu Ende. Mit seinem neuen Buch dechiffriert er die Kodexe der Mafia. Kaum woanders wird das Werte- und Machtsystem der ’Ndrangheta, der Cosa Nostra oder der Camorra so deutlich als in den Geschichten ihrer Frauen, Töchter und Schwestern. Im Publikum sorgen diese Erzählungen immer wieder für entsetztes Kopfschütteln. Denn leider sind alle zwölf Geschichten im Buch wahr.

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"Un viaggio sull'Autostrada del sole", Domani (italienische Tageszeitung)

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Interview mit Davide Coppo zum Roman "Der Morgen gehört uns", fluter.de