Einst malte er nur Schilder – heute gilt er als die Seele von Neapel
Pasquale de Stefano ist der letzte "numeraio" von Neapel: Er malt Schilder für Obststände oder Lokale. Früher half er damit auch Analphabeten, inzwischen wird er weltweit gefeiert.
stern, 5.10.2025
In ganz Neapel hat er sich verewigt mit seiner Handschrift. In die Stadt eingeschrieben hat er sich. Pasquale De Stefanos Werk ist an fast jeder Ecke zu sehen. Der 78-Jährige aber ist kein Street-Art-Künstler. Sein Beruf ist altes Handwerk.
Seine Kunst findet man draußen, an Obst- und Gemüseständen, auf Wochenmärkten, in den Pizzerien der Stadt. Und mittlerweile auch auf Instagram – um Pasquale ist ein wahrer Hype entstanden. Dabei ist sein Werk zunächst recht banal: bunt beschriftete Schilder, auf denen die Preise von Waren stehen oder der Name eines Restaurants. Manchmal auch nur eine Hausnummer oder ein Schild mit einem Spruch auf Neapolitanisch. Feuriges Rot, Gelb, Blau und Grün sind die dominierenden Farben.
In Neapel ist er heute der einzige
Er ist Schriftenmaler, der Letzte seiner Art.
Es ist kaum möglich, durch Neapel zu laufen und nicht mindestens eines seiner Schilder zu sehen. Vermutlich hat jeder, der schon einmal in Neapel war, irgendwo auf seinen Erinnerungsfotos auch De StefanosHandschrift fotografiert. Nur wenige, selbst nicht alle Einheimischen, wissen, dass hinter den bunten Schildern, die die Märkte und Lokale der Stadt zieren, ein einziger Familienname steckt, nämlich: De Stefano.
"Schon mein Großvater und mein Vater machten das", sagt De Stefano. In seiner Werkstatt im Altstadtviertel San Lorenzo tunkt er seinen Pinsel gerade in ein knalliges Rot, um die Ziffer drei fertig zu pinseln. "Das hier wird eine Uhr. Für die Osteria Addù Giggin. Es ist ein Geschenk der Mitarbeiter an den Inhaber des Restaurants", sagt er, während er mit ruhiger Hand den Bauch der Ziffer malt.
Die Osteria ist einer von vielen Auftraggebern aus der Gastronomie. Zu den wohl Prominentesten gehört Gino Sorbillo, der für seine neapolitanische Pizza auch außerhalb von Italien bekannt ist. De Stefano hat für ihn Schilder und sogar Pizzakartons beschriftet. Für eine Pizza bei Sorbillo stehen sowohl Neapolitaner als auch Touristen Schlange.
Während er all das malt, sitzt Pasquale De Stefano leicht buckelig auf einem winzigen Stuhl. An den Wänden stapeln sich die Holzbretter, die noch zu Schildern werden sollen, und jene, die schon fertig sind und darauf warten, von den Auftraggebern abgeholt zu werden. De Stefano ist still, wenn er malt. Nur das monotone Rauschen eines Ventilators ist zu hören. Er wirkt ein wenig versunken, als müsse er aus seiner Kunst auftauchen, bevor er Fragen beantworten kann. Die nach dem „Warum?“ etwa. Und natürlich: seit wann?
"Ich war erst zehn Jahre alt, als ich mit dem Malen angefangen habe. Mein Vater hat mir und meinen Geschwistern das beigebracht, er war ja auch Schriftenmaler", sagt er. In einer Ecke, zwischen Schlüsselanhängern, Tassen, Magneten und Tellern, alle von ihm gestaltet, stehen auf einem kleinen Altar Familienfotos. "Ich bin hier in diesem basso aufgewachsen. Mit meinen Eltern und meinen acht Geschwistern", erzählt De Stefano. Ein basso ist eine kleine Erdgeschosswohnung. Meistens mit nur einem Zimmer. Von der Haustür gelangt man direkt auf die Straße. Küche, Wohnraum, Schlafzimmer. Früher spielte sich das alles auf engstem Raum ab. Heute ist dieser basso, die ehemalige Wohnung der Familie, Pasquale De Stefanos Werkstatt.
Seine Geschwister und er lernten den Beruf von ihrem Vater. Und dieser wiederum lernte von seinem Vater. Numeraio heißt der Beruf im Italienischen. Im Deutschen gibt es keine eindeutige Übersetzung. Numeraio bezeichnet die Person, die Zahlen malt, die "beziffert". Von den acht Geschwistern ist heute nur noch Pasquale De Stefano übrig, der diesen alten Beruf ausübt.
Er ist tatsächlich: der letzte Schriftenmaler Neapels.
Der numeraio, im neapolitanischen Dialekt auch o’nummarar genannt, ist eine Abwandlung des Berufs des öffentlichen Schreibers. Zum Schreiber ging man, wenn man Briefe schreiben lassen wollte, eine Übersetzung benötigte oder andere wichtige Dokumente anfertigen lassen musste. Die Leute, die zum Schreiber gingen, konnten meist selbst weder ausreichend lesen noch schreiben. Ein Grund, warum dieser Beruf überhaupt entstand.
Die Zahl der Analphabeten war hier besonders hoch
In den 1950er Jahren lag die Analphabetenquote in Italien noch bei 30 Prozent, zur Zeit der Gründung des italienischen Staates, 1861, waren es sogar 78 Prozent gewesen. Die höchsten Zahlen wiesen dabei die Inseln und der Süden auf. Auch Kampanien, die Region, in der Neapel liegt, zählte dazu.
"Damals war das anders als heute. Viele von den Obst- und Gemüsehändlern konnten nicht lesen und schreiben. Aber sie mussten ja Preise anschreiben für ihre Ware. Also kamen sie zu uns", erinnert sich De Stefano.
Zwischen der Mitte des 19. und dem frühen 20. Jahrhundert waren in Neapel Plätze und Gassen von Menschen bevölkert, die auf der Straße arbeiteten. Doch die meisten dieser Berufe sind heute verschwunden oder wurden industrialisiert. Es gab den "ciabattino", eine Art Schuster, den "maccaronaro", der Pasta herstellte und verkaufte, oder auch den "l’ombrellaio", den Schirmmacher.
Alle starben aus – nur De Stefano malte und malte und malte.
Marcella, De Stefanos Tochter, glaubt, dass seine Kunst überlebte, weil die bunten Handschriften ihres Vaters, ihrer Onkel und ihres Großvaters nach so vielen Generationen einfach nicht mehr aus dem Stadtbild wegzudenken waren. Sie gehören zu Neapel. "Man sieht seine Arbeit überall. Seine Handschrift ist zu einer Art Symbol Neapels geworden, weil es so etwas Einzigartiges ist", sagt sie. Außerdem, so Marcella, habe sich ihr Vater immer wieder etwas Neues ausgedacht.
Irgendwann begann Pasquale De Stefano, er weiß selbst nicht mehr genau wann, Sprüche mit seinen bunten Farben zu pinseln. Uno spritz al giorno toglie il medico di torno (ein Spritz am Tag hält den Arzt fern), steht da zum Beispiel. In der Nähe seiner Werkstatt findet man an einer Hauswand ein anderes Schild, die Farbe schon abgeblättert: Per la salute dei nostri figli non buttate la spazzatura (Für die Gesundheit unserer Kinder, lasst den Müll nicht liegen) oder auch: Sciò Sciò Ciucciuè, ein neapolitanischer Spruch, um Unglück abzuwehren.
Seit 2019 ist Pasquale De Stefano nun auch auf Instagram, sogar einen Onlineshop gibt es inzwischen. Tochter Marcella hilft ihm dabei. Sie bedrucken T-Shirts, Tassen, Schlüsselanhänger und Magneten. Souvenirtauglich. Urlaubertauglich. "Heute kommen meine Kunden aus der ganzen Welt", sagt De Stefano. Er ist stolz darauf. Sogar der amerikanische Schauspieler James Franco kam mal bei ihm vorbei. Das Foto mit ihm hat er sich in der Werkstatt aufgehängt.
Seine Handschrift wandert so von Neapel aus um die ganze Welt: USA, Belgien, Finnland, Deutschland. "Wir haben eine Kooperation mit einem amerikanischen Tour-Guide hier. Er kommt mit seiner Gruppe vorbei, und mein Vater erzählt seine Geschichte. Dadurch und durch Social Media ist er bekannt geworden. Das hat ihm auch die Aufträge verschafft", sagt Marcella.
Es ist Mittagszeit. Die Uhr für die Trattoria ist zwar noch nicht ganz fertig. Der letzte Schriftenmaler Neapels braucht aber eine Pause. Lange hieß es, niemand wolle in Pasquale De Stefanos Fußstapfen treten. Doch es gibt Hoffnung: "Mein Enkel. Der fängt gerade an zu üben."